Lausche ich der Stimme in meinem Kopf, so redet sie permanent. Am liebsten setzt sie mich in Bezug, vergleicht, zieht Grenzen zwischen mir und meiner Umgebung. Sie verortet Worte, Menschen, Situationen an einen mir angebracht erscheinenden Platz meines Weltbildes. Richtig, falsch, gut, schlecht, schwarz oder weiß?
Was sagt deine Stimme zu dir? Jetzt?
Was bedeutet es, wenn sich individuelle Wahrheiten in Gesellschaft manifestieren und multiplizieren? Es bedeutet die klare Abgrenzung von anderen und damit Ausgrenzung. Es bedeutet Einfachheit statt Komplexität, Einheitlichkeit statt Vielfalt. Im musikalischen Kosmos bedeutet es, Werke in einen verbreiteten, im Konsens gut befundenden Kanon zu übertragen und diesen zu repetieren. Es bedeutet, die Grautöne darin, die nicht konformen Existenzen und Minderheiten auszublenden.
In drei Semestern Recherchearbeit zum Thema Komponistinnen, People of Colour und Gender versuchten wir, dem entgegen zu wirken, ungehörte Kompositionen aufzufinden und aufs Podium zu bringen. Im Rahmen dieser Arbeit konnte, unterstützt durch das Dorothea-Erxleben-Stipendium, ein Kompositionsauftrag an El Lukijanov vergeben werden. Das daraus entstandene Werk erlebt an diesem Abend seine Uraufführung.
Die ausgewählten Lieder beschäftigen sich thematisch mit der Erfahrung von Gewalt und Krankheit, handeln von vorgezeichneten Lebenswegen und zerplatzten Träumen, sie beschreiben das Leid von Stigmatisierung und Diskriminierung, doch rufen auch zu Einheit und Sichtbarkeit auf.
Ein wiederkehrendes Motiv in den Texten ist das Wasser – als Regen, als Schnee, im Fluss.
Es steht im Kontrast zu den oft harten und schmerzvollen Erfahrungen, die in den Liedern thematisiert werden.
Wasser verweigert sich der Bewertung, es fließt, trägt, wandelt sich – und symbolisiert so auch die uneingeschränkte Daseinsberechtigung jeder Identität, jeder Geschichte.
Die begleitenden Videos, aufgenommen aus sehr unterschiedlichen Perspektiven von Studierenden, eröffnen weitere Erfahrungsräume und tauchen den Abend in ein filmisches Gesamterlebnis. Sie zeigen eine Vielzahl an persönlichen Blickwinkeln und eröffnen damit Momente von Mehrstimmigkeit, von Unschärfe, von Farbenreichtum: eine Einladung, die Welt nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit den Augen neu zu sehen.
Gleichzeitig offenbaren sie, dass wir Diskriminierungs- und Rassismussensibilisierung stets nur von unserer eigenen Situiertheit, Identität und Sozialisierung aus begegnen können. Wir beschäftigen uns hier mit unserer eigenen Verletzlichkeit innerhalb einer doch privilegierten Position — ausgrenzende Rassismuserfahrungen wollen wir uns nicht aneignen. Die Darstellung von Haut beschränkt sich aus diesem Grund hauptsächlich auf unsere eigene: weiß, light skinned, oder white passing.
Wer ist diese Stimme und könnte sie die Dinge ihrer Umgebung nicht wie Wassertropfen betrachten? Einzigartig, individuell, wertungsfrei.
Kaija Saariaho - il pleut
Il pleut des voix de femmes comme si elles
étaient mortes même dans le souvenir
c'est vous aussi qu'il pleut merveilleuses
rencontres de ma vie ô gouttelettes
et ces nuages cabrés se prennent à hennir
tout un univers de villes auriculaires
écoute s'il pleut tandis que le regret et
le dédain pleurent une ancienne musique
écoute tomber les liens qui te retiennent
en haut et en bas
Guillaume Appolinaire
Eve Beglarian - Fireside
When I sit by the side of the blazing fire
On a cold December night,
And gaze at the leaping and rollicking flames
As they cast their flickering light
I see what I would be in future years,
If my wishes and hopes came true,
And the flames form pictures of things that I dream,
Of the deeds that I hope to do.
One tall yellow flame darts above all the rest,
And I see myself famed and renowned,
A poetess I, and a novelist too,
Who is honored the whole world around.
That flame then grows dim, which to me seems to say,
That my first hope must soon die away,
Then another one darts on a great opera stage,
The most exquisite music I play.
And then, after many flames rise, and die down,
The first burns even and slow,
And I see myself singing to children my own,
On the porch of a small bungalow.
Oh, I dream, and I dream, until slowly the fire
Burns lower, grows smaller, less bright,
Till the last tiny spark has completely gone out,
And my dreams are wrapt up in the night.
Ruth Crawford, age 13
Ruth Crawford Seeger - White Moon
White Moon comes in on a baby face.
The shafts across her bed are flimmering.
Out on the land White Moon shines,
Shines and glimmers against gnarled shadows,
All silver to slow twisted shadows
Falling across the long road that runs from the house.
Keep a little of your beauty
And some of your flimmering silver
For her by the window tonight
Where you come in, White Moon.
Carl Sandburg
El Lukijanov - Vergib mir nicht (UA)
El Lukijanov (*1983) ist Komponist, Lyriker, Sozialarbeiter und Aktivist mit moldauischer Herkunft. Seine musikalische Ausbildung begann in der Heimatstadt Tighina mit Klavier- und Violinunterricht und fand zuletzt in Karlsruhe bei Wolfgang Rihm und Markus Hechtle statt.
Heute arbeitet El Lukijanov hauptsächlich als Aktivist und Sozialarbeiter in feministischen und queeren Organisationen.
El pausiert zur Zeit vom Komponieren und sucht nach Alternativen zum gelernten Musik- und Kunstverständnis.
Tropft ein Organ
Spritzt Speichelsplitter
Wir sprechen Scham
Eins wolle Kontrolle
Was Du liest
Wie wir Beweisführung erlernten
Kinder müssen daher häufiger ermahnt Ermahnungen verrichten.
Als wenn.
Die Alten bangten abgehängt
Generationen hingen abgebangt.
Etwa.
Dein Panic Button, zweites Chromosom
Ne abgestiegene Fortpflanzungsstufe
Hinauf zum Denkstillstand
Wenngleich,
Ich kann doch nichts dafür.
U-huh. — mmh-hm.
Mm mm mhmhmhmh
Vergib mir nicht.
Wie kannst du deiner bis aufs Blut
In Wehenschmerz gekrampften Mutter
So lang du deine Füße unter
Gründerväterlich besamtem Boden.
Hier soll’s aus meiner Seele
Raus vibrieren.
Haben wir mit Fleiß entlernt.
Soll tief in eure Seelen spucken
Mein Speichel als
Gestockte Götterspeisewürfel
Und ihre Farben tragen Namen
Und ihre Namen sind gewollt, gewusst, erkannt, gelernt.
Hier sollen diese Glibberstücke tanzen.
Mein Fuß, mein Fuß kennt keinen Takt.
Und ja, wir sind ein Alter
Schichten, Fort- und Eingepflanzter
Erlittene, erkämpfte Ichs
Gesplitterte, Hineingespuckte,
Entzweiung Hingefolterte
Spürst Du, wie diese Kiesel an deinen Waden wackeln
Und hängen Distelkugeln noch an ihren Haaren
Oder magst Du deine Identität lieber rasiert?
Fühlst Du schon das Glühen
Deiner Körperflüssigkeiten
Unter Deiner Sohle
Wie es durch Krusten bricht
Und Dir bis unter
Deine Oberlippe steigt?
U-huh. — mmh-hm.
Mm mm mhmhmhmh
El Lukijanov, 2024
El über "Vergib mir nicht":
“Vergib mir nicht” ist ein Stück für Stimmen und Klavier*e. Während der gleichnamige Text sich mit dem Verhandeln von Geschlechterbinarität beschäftigt, verhält sich der instrumentale Anteil dazu wie eine gnadenlos dystopische Form. Die Komposition ist minimal gesetzt, die auch sprechenden Singstimmen können von den Sänger*innen je nach Lage und Ausprägung oktaviert gesungen werden, auch sind die Stimmen nicht gegendert. Stattdessen wird allen Musizierenden die Ausgestaltung (z.B. Verteilung der Parts) überlassen. Die Klavierstimme kann ebenfalls von einem oder mehreren Klavieren ausgeführt werden. Sie umkreist immer wieder zwei Noten: Trotz so vieler Tasten und denkbarer Möglichkeiten scheint das Klavier nur auf diese beiden Noten fixiert zu sein.
Meine Komposition verhält sich ein bisschen wie tonal unter Gewaltandrohung.
Soap&Skin - Me and the Devil
Early this morning
When you knocked upon my door
Early this morning
When you knocked upon my door
And I said hello Satan, ah
I believe it is time to go
Me and the devil walkin′ side by side
Me and the devil walking side by side
And I'm gonna see my man
Until I get satisfied
See, see, you don′t see why
And you would dog me 'round
See, don't see why
People dog me around
It must be that old evil spirit
So deep down in your ground
You may bury my body
Down by the highway side
You may bury my body
Down by the highway side
So my old evil spirit
Can Greyhound bus that ride
So my old evil spirit
Can Greyhound bus that ride
Robert Johnson
Matthew Aucoin - Crossing Brooklyn Ferry
Flood-tide below me! I see you face to face!
And you that shall cross from shore to shore years hence...
You others who are to follow me...
I see now the ties between me and you.
The current rushing so swiftly,
Swimming with me far away...
You others...you are more to me than you might suppose.
Just as you feel when you look on the river...so I felt.
It was the same to me as it is to you.
What is it, then, between us?
What is the count of the scores or hundreds of years between us?
Whatever it is, it avails not.
Flow on, river! flow with the flood-tide, and ebb with the ebb-tide!
Gorgeous clouds of the sunset!...
We receive you with free sense at last.
Frei adaptiert nach dem Gedicht "Crossing Brooklyn Ferry" von Walt Whitman
Chris DeBlasio - Walt Whitman in 1989
Walt Whitman has come down
today to the hospital room;
he rocks back and forth in the crisis;
he says it’s good we haven’t lost
our closeness, and cries
as each one is taken
He has writen many lines
about these years: the disfigurement
of young men and the wars
of hard tongues and closed minds.
The body in pain will bear such nobility,
but words have the edge
of poison when spoken bitterly.
Now he takes a dying man
in his arms and tells him
how deeply flows the River
that takes the old man and his friends
this evening. It is the River
of dusk and lamentation.
“Flow.” Walt says. “dear River,
I will carry this young man
to your bank. I’ll put him myself
on one of your strong, flat boats,
and we’ll sail together all the way
through evening.”
Perry Brass
Cecilia Livingston - Snow
No breath of wind,
No gleam of sun –
Still the white snow
Whirls softly down
Twig and bough
And blade and thorn
All in an icy
Quiet, forlorn.
Whispering, rustling,
Through the air
On still and stone,
Roof, - everywhere,
It heaps its powdery
Crystal flakes,
Of every tree
A mountain makes;
‘Til pale and faint
At shut of day
Stoops from the West
One wint’ry ray,
And, feathered in fire
Where ghosts the moon,
A robin shrills
His lonely tune.
Walter de la Mare
Eve Beglarian - Calling on all silent minorities
HEY
C’MON
COME OUT
WHEREVER YOU ARE
WE NEED TO HAVE THIS MEETING
AT THIS TREE
AIN’ EVEN BEEN
PLANTED
YET
June Jordan